Ausgerechnet Bach! Ausgerechnet eine barocke Passacaglia rauschte auf das Publikum hernieder, als die Hamburger an einem Donnerstagabend Anfang Juni 1908 ihr neues großes Konzerthaus einweihten – die Laeiszhalle. Dabei war die Orgel darin so gar nicht nach dem Klangideal des Barocks ausgelegt. Sie klang, wie Orgeln damals klingen sollten: voll und warm, romantisch, wie ein großes Orchester.
Das frisch eingeweihte Instrument war eine Walcker-Orgel. Der Hersteller, E. F. Walcker & Cie., gehörte seinerzeit zu den renommiertesten und erfolgreichsten Orgelbauern der Welt. Walcker-Orgeln waren wegen ihrer technischen Finessen und Klangkraft geschätzt.
Zweihundert Jahre früher, als Bach seine Passacaglia komponierte, sollte Orgelklang vor allem transparent sein. Die verschiedenen Stimmen wollte man bei aller Verschlungenheit immer sauber heraushören, und die Orgelbauer waren zurückhaltend damit, die Orgelregister so zu gestalten, dass die verschiedenen Pfeifentöne miteinander völlig zu neuen Klängen verschmolzen. Dieser Grundsatz hatte jahrhundertelang im Orgelbau gegolten und das Schaffen der großen Orgelbauer bestimmt. Zu ihnen gehörten etwa Arp Schnitger in Norddeutschland, Gottfried Silbermann in Sachsen und dessen Bruder Andreas Silbermann im Elsass.
Zwischen 1750 und 1850, also etwa vom ausklingenden Barock bis zur Romantik, wandelte sich das Klangideal der Orgel grundlegend. Die neuen Orgeln erinnerten nun eher an ein großes philharmonisches Orchester anstelle eines barocken Kammerorchesters. Dieser unterschiedliche
Charakter romantischer und barocker Orgeln erklärt, warum bis heute nicht auf jeder Orgel sich bedenkenlos alles stilecht spielen lässt.
Aber Bachs Komposition und die Orgel in der neuen Hamburger Konzerthalle passten gut zusammen. Denn die Passacaglia in c-Moll BWV 582 wurde seinerzeit verstanden als ein großes Crescendo, also eine fortwährende Klangsteigerung, und Alfred Sittard, der damalige Kantor und hochdekorierte Organist der Hamburger Hauptkirche Sankt Michaelis, dürfte mit seinem Spiel die Dynamik und die später legendär gewordene Gravität der spätromantischen Orgel eindrucksvoll zur Geltung gebracht haben. Knapp vierzig Jahre lang tat sie von da an ihren Dienst.
Nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich der Orgelgeschmack jedoch erneut. Die Klangästhetik der romantischen Orgeln war mit einem Mal verpönt, die Instrumente aus den vergangenen rund hundert Jahren und ihre moderne Technik wurden als Fabrikware verunglimpft. Es entstand sogar eine eigene
Reformbewegung, die Klang und Bau von Orgeln auf Prinzipien zurückzwang, die man für barock hielt. Also wurden viele große romantische Orgeln umgebaut und klanglich verstümmelt. Andere wurden verscherbelt und durch neue Instrumente ersetzt.
So erging es nach dem Zweiten Weltkrieg auch der großen Konzertorgel in der Laeiszhalle. Instrument und Gebäude hatten den Bombenhagel so gut wie unbeschadet überstanden. Aber den Klang der Orgel fanden die Verantwortlichen nicht mehr zeitgemäß. Sie wurde 1950 bis auf die vordersten Pfeifen entkernt und ans Wuppertaler Thalia-Theater verkauft, wo sie als Kino- und Varieté-Orgel diente. Bald darauf wurde sie nach Köln weitergereicht, wo sie heute in einem modernen Kirchenbau zu hören ist, verkleinert, aber mit Verstand restauriert.
Der Hamburger Orgelbauer Rudolf von Beckerath bekam also 1949 den Auftrag, hinter die Fassade der ursprünglichen Orgel eine neue zu setzen. Er hatte viel Erfahrung mit Kirchenorgeln und hatte sich mit seinem Metier gerade selbstständig gemacht. Doch noch beim Einbau zeigte sich, dass sein Instrument den anspruchsvollen Konzertsaal nicht ausreichend füllen konnte. Die Beckerath’sche Orgel war offenbar eher für eine Kirche ausgelegt und hat die akustisch anspruchsvolle Laeiszhalle mit ihren 2.025 Sitzplätzen nie richtig in den Griff bekommen: Was in den vorderen Reihen noch gut klingt, kommt schon in der Mitte desSaales nur noch lau an. Das Manko besteht bis heute, obwohl man in der Folgezeit einige Male versuchte, die Orgel nachzubessern.
Und so wuchs die Einsicht, dass die ursprüngliche Orgel die bessere Lösung war. Deshalb soll die Walcker-Orgel jetzt originalgetreu rekonstruiert werden. Der Auftrag ist vergeben, die Beckerath-Orgel wird ab Sommer 2023 ausgebaut und wandert für einen symbolischen Euro nach Münchberg in Oberfranken. Die dortige Stadtkirche St. Peter und Paul ist ein neugotischer Sandsteinbau, dem die Beckerath-Orgel ausgezeichnet stehen dürfte.
Ein Leinemann-Team um Bastian Haverland, Andreas Rosenauer und Kai Linnemannstöns hat das Vergabeverfahren für die Rekonstruktion der Walcker-Orgel für die Laeiszhalle durchgängig begleitet – von der ersten Vergabekonzeption bis zur Vertragsverhandlung und dem Zuschlag.
Das Auftragsvolumen umfasst rund 3,5 Millionen Euro. Bis 2025 wird das Gebäude noch technisch modernisiert, ab 2026 soll der Konzertsaal dann auch wieder eine Orgel haben, die bis in die hintersten Reihen gut zu hören ist und klingt wie damals, an einem Juniabend 1908!