News | Newsletter | Neues zum Baurecht 04/2019
Der Abgesang auf die (geübte) Ableitung aus der Urkalkulation?
Der BGH hat sich entschieden: Eine vorkalkulatorische Preisfortschreibung, wie sie von der herrschenden Auffassung in der obergerichtlichen Rechtsprechung sowie der Literatur bislang vertreten wird, findet nicht statt. Das gilt ab sofort für die Vergütungsanpassung bei Mengenmehrungen nach § 2 Abs. 3 Nr. 2 VOB/B und immer dann, wenn die Vertragsparteien nichts anderes vereinbart haben.
BGH, Urteil vom 08.08.2019, VII ZR 34/18
Zum Sachverhalt: Der beklagte Auftraggeber (AG) beauftragte den Auftragnehmer (AN) unter Einbeziehung der Regelungen der VOB/B mit Abbrucharbeiten. Während der Ausführung stellte sich heraus, dass wesentlich mehr Abbruchmaterial mit gefährlichen Stoffen belastet ist, als im Zuge der Planung und Ausschreibung angenommen. In der Folge kommt zu einer erheblichen Mengenmehrung bei einer mit einem Vordersatz von 1 Tonne (t) ausgeschriebenen Entsorgungsposition. Zu entsorgen waren letztlich 83,92 t belastetes Material. Nach dem zwischen den Parteien geschlossenen Vertrag hatte der AG die Tonne zu je netto 462,40 Euro zu vergüten. Aufgrund der Mengenmehrung verlangte der AG jedoch die Vereinbarung eines neuen Preises und Auskunft über die tatsächlichen Kosten der Entsorgung. Dem kam die Klägerin nach und teilte mit, dass sie für Transport und Containerstellung EUR 2.296,80 netto an die H. GmbH und für die Entsorgung EUR 5.387,66 Euro an die N. GmbH netto gezahlt hat, mithin zusammen Kosten in Höhe von rund 92,00 EUR/t netto angefallen sind. Auf dieser Grundlage bildete der AG unter Berücksichtigung des Kalkulationszuschlags des AN von 20% auf Fremdkosten einen neuen Einheitspreis von 109,88 Euro/t, und zahlte daraufhin insgesamt EUR 10.973,54 brutto. Eine Einigung über einen neuen Einheitspreis kam nicht zustande. Der AN erhob Klage. Im Prozess trug der AN vor, dass Verladekosten von 40 EUR/t und, basierend auf Angeboten der H. GmbH, für Deponie- und Transportkosten 292,00 EUR/t und für die Containerstellung 60 EUR/t jeweils zuzüglich 20% Gemeinkostenzuschlag auf die Fremdkosten urkalkuliert worden sind. In erster Instanz wurde ein Einheitspreises von EUR 149,88 Euro/t netto und in zweiter Instanz von EUR 150,40 Euro/t netto ([91,57 x 1,2] + 40) gerichtlich festgesetzt. Der AN legte dagegen Revision beim BGH ein.
Die Revision wird mit folgender Begründung zurückgewiesen: Voraussetzung für ein berechtigtes Preisanpassungsverlangen nach § 2 Abs. 3 Nr. 2 VOB/B sei, dass eine über 10 v.H. hinausgehende Überschreitung des Mengenansatzes festgestellt ist. Verlange eine Partei die Anpassung des Einheitspreises, so gebe § 2 Abs. 3 Nr. 2 VOB/B lediglich vor, dass die Parteien unter Berücksichtigung der Mehr- oder Minderkosten einen neuen Einheitspreis zu vereinbaren haben. Maßgeblich sei also eine Einigung der Vertragsparteien auf einen neuen Einheitspreis. Wie die Vergütungsanpassung bei Mengenmehrungen bei Ausbleiben einer Einigung vorzunehmen ist, sei weder in § 2 Abs. 3 Nr. 2 VOB/B geregelt noch nach einem allgemeingültigen Verständnis der beteiligten Verkehrskreise oder einer bestehenden Übung zu bestimmen. Vielmehr enthalte der Vertrag dann eine Regelunglücke, die im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung nach §§ 133,157 BGB zu schließen ist. Danach sei entscheidend, was die Vertragsparteien bei angemessener Abwägung ihrer Interessen nach Treu und Glauben als redliche Vertragspartner vereinbart hätten, wenn sie den nicht geregelten Fall bedacht hätten. Es gelte auf Seiten des Auftragnehmers eine nicht auskömmliche Vergütung zu vermeiden und auf Seiten des Auftraggebers eine übermäßige Belastung zu verhindern. Dies zu Grunde gelegt seien für die Bemessung des neuen Einheitspreises bei Mehrmengen im Sinne von § 2 Abs. 3 Nr. 2 VOB/B die tatsächlich erforderlichen Kosten der über 10 v.H. hinausgehenden Leistungsbestandteile zuzüglich angemessener Zuschläge maßgeblich. Eines Rückgriffes auf die vorkalkulatorische Preisfortschreibung bedürfe es nicht, um der Störung des Äquivalenzverhältnisses adäquat zu begegnen. Der vom Gericht zweiter Instand festgesetzte Einheitspreis entspreche diesen Anforderungen.
Fazit:
Der AN kann für die über 10 v.H. hinausgehenden Mengen ausschließlich die tatsächlich erforderlichen Kosten zuzüglich angemessener Zuschläge erstattet verlangen. Im konkreten Fall sind dies die Fremdkosten zuzüglich des Zuschlags von 20% sowie die eigenen Verladekosten. Was unter angemessenen Zuschlägen zu verstehen ist, hat der BGH nicht entschieden. Vielmehr ist er davon ausgegangen, dass sich die Parteien auf diesen Preisbestandteil verständigt haben, weil auch der AG bei seiner Berechnung des neuen Einheitspreises den Zuschlag in Ansatz gebracht hat. Inkonsequent bleibt der BGH bei den Verladekosten. Die Vorinstanz leitete diese aus der Urkalkulation ab. Der BGH „unterstellt“ sie ohne Begründung als tatsächlich erforderliche Kosten. Dennoch ist nach dieser Entscheidung klar: Werkunternehmer müssen Mehrmengen nach den tatsächlich erforderlichen Kosten abrechnen, wenn nicht etwas anderes vereinbart ist. Ob diese Entscheidung Auswirkungen auf die Berechnung der Vergütung für geänderte und zusätzliche Leistungen im Sinne von § 2 Abs. 5 und 6 VOB/B hat, bleibt offen. Da zumindest § 2 Abs. 5 VOB/B im entscheidenden Wortlaut („[...] ist ein neuer Preis unter Berücksichtigung der Mehr- und Minderkosten zu vereinbaren.“) identisch mit dem des § 2 Abs. 3 Nr. 2 VOB/B ist, dürfte eine entsprechende Wertung wahrscheinlich sein. § 2 Abs. 6 VOB/B scheint sich durch seinen Wortlaut von § 2 Abs. 3 Nr. 2 und § 2 Abs. 5 VOB/B abzugrenzen. Tatsächlich ist in der Literatur jedoch anerkannt, dass es sich um eine Unschärfe in der Formulierung handelt, ein sachlicher Unterschied hingegen nicht besteht. Damit dürfte auch der Weg für § 2 Abs. 6 VOB/B vorgezeichnet sein.
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