News | Newsletter | Neues zum Baurecht 02/2023
Rosinenpicken verboten – Vorkalkulatorische Preisfortschreibung versus tatsächlich erforderliche Nachtragskosten
OLG Koblenz, Beschl. v. 20.06.2022, 1 U 2211/21
Das klagende Straßenbauunternehmen war von einem kommunalen Zweckverband im Rahmen eines VOB/B-Vertrages mit Arbeiten an einer Kreisstraße betraut worden. Diese beinhalteten laut Vertrag insbesondere die Erstellung von 13 Kopflöchern, für die die Klägerin einen kalkulierten Einheitspreise angeboten hatte.
Tatsächlich wurden auf der Baustelle 35 Kopflöcher erstellt. Die gegenüber dem Vertragssoll erhöhte Anzahl von Kopflöchern führte zu einer Verlängerung der geplanten Bauzeit um mehrere Wochen. Die Klägerin verlangt nunmehr daher Nachtragsvergütung für die Mehrleistungen.
Einerseits beruft sie sich innerhalb der Berechnung der Anspruchshöhe auf die Grundsätze der vorkalkulatorischen Preisfortschreibung. Diese, so meint sie, seien hier anzuwenden, da der Vertragsschluss noch vor dem insoweit bahnbrechenden Urteil des BGH vom 08.08.2019, Az. VII ZR 34/18, stattgefunden habe.
Andererseits trägt sie vor, sie müsse sich an den kalkulierten Angebots-Einheitspreisen nicht mehr festhalten lassen. Aufgrund der Mengenmehrungen sei es zu erheblichen Mehrkosten für die Erstellung der Kopflöcher gekommen, die die Klägerin in die Nachtrags-Kalkulation der einschlägigen Einheitspreise aufnehmen will.
Mit der auf diesen Vortrag gestützten Klage scheitert die Klägerin in erster Instanz. Daraufhin legt sie Berufung zum OLG Koblenz ein.
Die Entscheidung: Zurückweisung der Berufung ohne mündliche Verhandlung gem. § 522 Abs. 2 ZPO, da diese offensichtlich unbegründet ist.
Zunächst stellt das OLG Koblenz zur Frage der Anwendbarkeit der Grundsätze zur vorkalkulatorischen Preisfortschreibung fest, dass diese im Grundsatz keine Anwendung mehr finden. Der BGH habe in seiner oben zitierten Entscheidung zutreffend entschieden, dass es dem bestmöglichen Ausgleich zwischen den Parteien entspreche, Nachtragsforderungen auf der Basis der tatsächlich erforderlichen Mehrkosten abzurechnen. Insofern sei, wenn keine ausdrückliche anderweitige Regelung der Parteien vorliege, diese Berechnungsmethode anzuwenden. Dies gelte, so das OLG Koblenz, sowohl für Verträge, die nach dem genannten Urteil des BGH abgeschlossen wurden, als auch für solche, die bereits zuvor geschlossen wurden.
Eine gesonderte Regelung bzgl. der Berechnung von Nachträgen hätten die Parteien hier nicht vereinbart. Insofern sei die genannte Rechtsprechung des BGH auch im zu entscheidenden Fall anzuwenden.
Selbst wenn man jedoch von der Zulässigkeit eines Rückgriffs auf die vorkalkulatorische Preisfortschreibung ausginge, sei der Vortrag der Klägerin hier unschlüssig. Denn die Preisfortschreibung gebiete, dass sich die Klägerin ausschließlich an ihre ursprüngliche Angebotskalkulation halte. Hier jedoch habe die Klägerin ihrer Nachtragsforderung ausdrücklich eine neue Kalkulation der Einheitspreise zugrunde gelegt, so dass sie sich gerade nicht auf die ursprüngliche Kalkulation berufen habe.
Fazit
Das hier gegenständliche Urteil des OLG Koblenz ist in mehrerlei Hinsicht interessant.
Zunächst weil es zeigt, dass die neue Rechtsprechung des BGH für alle Verträge, unabhängig vom Zeitpunkt des Vertragsschlusses, gilt. Daher kommt es bei der Berechnung von Nachtragsforderungen heutzutage grundsätzlich auf die tatsächlich erforderlichen Kosten an, denen „angemessene“ Zuschläge beigefügt werden dürfen. Dies hat der Gesetzgeber in § 650c Abs. 1 BGB nunmehr auch als gesetzliches Leitbild festgelegt.
Wenn die Parteien eines Bauvertrages hiervon abweichend vorgehen und eine andere Berechnungsmethodik wählen wollen, müssen sie dies ausdrücklich im Bauvertrag festhalten.
Das Urteil ist aber auch wegen seines Hinweises zur vorkalkulatorischen Preisfortschreibung interessant. Gem. § 650c Abs. 2 BGB kann sich der Auftragnehmer zur Darlegung der tatsächlich erforderlichen Nachtragskosten nämlich auf seine ursprünglich kalkulierten Preise berufen, die als tatsächlich erforderlich gelten. Über diesen Umweg wird der Rückgriff auf die Urkalkulation wieder relevant. Hier ist zu beachten, dass es kein „Rosinenpicken“ geben darf: Entweder der Auftragnehmer beruft sich vollumfänglich auf seine ursprüngliche Kalkulation, oder er legt die tatsächlich erforderlichen Kosten in concreto dar (siehe auch Gesetzesbegründung zu § 650c Abs. 2 BGB: BT-Drs 18/8486, S. 56). Eine Neuberechnung der Einheitspreise innerhalb des Berufens auf die Urkalkulation ist – so zeigt es die besprochene Entscheidung – unzulässig.